VOM URBANEN GRÜN ZUR GLOBALEN VERANTWORTUNG – Harry Glück und seine begrünten Wohnkomplexe 

 

Helga Fassbinder

Es war an einem Vormittag des Sommers 2010. Bei mir in Amsterdam klingelte das Telefon. Eine Stimme meldete sich mit: ”Harry Glück”. Ich war amüsiert. Witziger Einfall eines Spassvogels, dachte ich. Harry Glück selber, der Vater von Alt Erlaa und vieler Wiener Wohnbauten, der inzwischen hochbetagt sein dürfte und dem ich nie begegnet war, wird mich ja wohl nicht angerufen haben. Doch der Anrufer sprach weiter: “Ich habe von Ihrem Konzept ‚Biotope City, die Stadt als Natur‘ gehört. Das ist sehr interessant. Was halten Sie davon, wenn wir ein Projekt dazu entwickeln. Kommen Sie nach Wien! Dann reden wir weiter.” Ich war perplex. Er war es wirklich.

Ich kannte seine Bauten seit langem von meinen Erkundungen durch Wien. Stur und sperrig stehen sie im Stadtgefüge – oder himmelstürmend wie Alt Erlaa weiter draussen. Sie fielen auf, sie waren anders – und was ich bei vielen von ihnen besonders bemerkenswert fand: sie hatten einen üppigen Grünbewuchs. Auf allen Stockwerksebenen gibt es da tiefe Pflanzentröge über die gesamte Breite der Fassade, nicht mit Geranien und Begonien, nein, mit Stauden, Sträuchern, viele davon immergrün, winterharte Azaleen, Rhododendren, Kirschlorbeer – Gewächse, die man sonst nur in Parks und Gärten antrifft. Die Gebäude zeigen sich so nicht nur im Sommer, sondern auch mitten im Winter in einem grünen Kleid. Hier hatte ein Architekt ein Verständnis dafür, dass auch Städter sich nach Pflanzen sehnen, nach der Gartenlaube im Grünen! Die Sonnenschirme auf den breiten Balkonen, eigentlich eher gestapelte Terrassen, lassen ahnen, dass ihre Bewohner es nicht nötig finden, am Feierabend und an Wochenenden nach draußen in die Natur zu fahren. Sie haben ihr Gartenparadies zuhause, mitten in Wien. Und dieser Architekt hatte verstanden, dass berufstätigen Stadtbewohnern und nicht mehr ganz so rüstigen Pensionisten mehr gedient ist mit einem grossen Pflanzentrog direkt an der Wohnung als mit einem Schrebergarten weit draußen.

Doch die Grüninvasion in Harry Glücks Bauten beschränkt sich nicht auf die Balkone. Innenhöfe sind als autofreie, reich bepflanzte Oasen konzipiert, es gibt Kinderspielplätze unter ausgewachsenen Bäumen, die ihrem Umfang nach bestimmt schon in beträchtlicher Größe gepflanzt worden sind. Da dies ebenso ein Kostenfaktor ist wie die Pflanzentröge auf den Balkonen, muss der Architekt mit den Bauträgern darum gerungen haben. Es muss ihm wichtig gewesen sein. Er muss erkannt haben, wie bedeutend Naturerfahrung, und sei sie auch noch so domestiziert, für uns Menschen ist – auch für uns urbane Menschen. Und Harry Glück hat dies schon lange vor unserer heutigen Grünbegeisterung erkannt. Ich habe daher seine Arbeit immer geschätzt – auch in den Zeiten der landläufigen Ablehnung unter Architekten, die der Wertschätzung von Bewohnern so diametral entgegenstand.

Erhebt sich die Frage: Wie kommt ein Architekt zu einer solchen, für seine Berufsgruppe so untypische Haltung? Gemeinhin zeichnen sich die grossen städtischen Wohnungskomplexe des vergangenen Jahrhunderts, ob in Wien oder anderswo in Europa, nicht gerade durch eine besondere Verwobenheit mit Grün aus. Es sind im allgemeinen kahle Steinwüsten mit wenig einladenden Aussenbereichen, in denen kein Grashalm wächst (es sei denn versteckt als Zeichen der Verwahrlosung) und auch nicht wachsen soll – höchtens als kurzgschorener Rasen.

Die Glück-Bauten sind, wie auch in manch anderer Hinsicht, eine Ausnahme. Vielleicht ist das die Konsequenz dessen, dass Harry Glück, vom Theater kommend, gewissermassen ein Quereinsteiger in die Architektur war. Jede Ausbildung bringt gleichzeitig eine Verengung des Blicks mit sich, und wenn landläufig oft vom Fachidiotentum gesprochen wird, hat das durchaus auch bei Architekten und Stadtplanern seine Berechtigung. Ihre Ausbildung erschöpft sich an vielen Akademien und Universitäten überwiegend in formaler Gestaltung – obwohl gerade diese Disziplinen ein Schmelztiegel der Erkenntnisse aus anderen Wissenschaftsbereichen sein sollte und jene der Humanwissenschaften zum Grundwissen gehören müssten.

Harry Glück dagegen hat sich in seinem Denken nie auf Architektur im engeren Sinn beschränkt. Er nahm seine Aufgabe als Entwerfer des urbanen Umfelds, in dem sich Menschen aufhalten müssen und wohlfühlen sollen, ernst. Er sah sich um in den Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit dem Menschen beschäftigen. Er interessierte herausragende Ethologen und Biologen seiner Zeit wie Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Hans Hass und Bernd Lötsch für sich und seine Arbeit, um in Auseinandersetzung mit ihnen und ihrem Expertenwissen herauszufinden, was die essentials für das Lebensumfeld von Menschen sind: was die Natur des Menschen verlangt, auch noch in heutiger Zeit verlangt, was die Grundvoraussetzungen sind, die auch in einer urbanen Szenerie gewährleistet sein müssen. Grün, Natur, ebenso wie Wasser gehören an erster Stelle dazu. Und so haben die Wohnbauten von Harry Glück ein Schwimmbad auf dem Dach und so viel wie irgend möglich Grün im Aussenbereich und auf den Balkonen.

Musterbeispiele sind die Wohnanlage Inzensdorfer Strasse mit ihren üppigen Terrassen, das Terrassenhaus in der Arndtstrasse, der Wohnpark Wilhelmsdorf mit seinem schönen Birkenwäldchen im Innenbereich sowie der weitläufig durchgrünte Heinz Nittel-Hof – und natürlich Alt Erlaa, wo die gestapelten Terrassengärten bis in die 13. Etage in die Höhe steigen. Die Bauten sind beliebt, die Schwimmbäder werden intensiv besucht, die Pflanzentröge werden buchstäblich überall gepflegt, und tatsächlich: man macht Ferien auf dem Balkon. Und nicht zuletzt werden diese Bauten auch durch die Bauträger geschätzt: wegen der geringen Fluktuation der Mieter und der geringen Erhaltungskosten.

Es war Harry Glück’s Vision, mit diesen urbanen begrünten Terrassenhäusern einen sozialen Wohnbaus auf dem Standard der Wohnpräferenzen gehobener Einkommensschichten Realität werden lassen. Um ihn  zu zitieren: “Die durch Besitz oder Macht Privilegierten leben und wohnen auf der ganzen Welt ident, bloß mit Klima bedingten Unterschieden: in Kontakt zur Natur, in der Nähe von Wasser, mit der Möglichkeit zu sozialen Kontakten.“

Inzwischen aber bewegt sich Harry Glück mit seinem zentrale Anliegen in einem noch umfassenderen, ja existentielleren Kontext. Lautete vor 40 Jahren die Frage: “Was braucht der Mensch, um in der urbanen Welt gut zu leben?”, so müssen heute Antworten unter veränderten Umweltbedingen global und in einem massalen Massstab gefunden werden.

Noch für dieses Jahrhundert sagen selbst die vorsichtigen Prognosen ein globales Bevölkerungswachstum von mindestens 50% voraus; zudem werden die Menschen in wenigen Jahrzehnten nahezu ausschliesslich in Städten leben. Was heisst das? Was muss die Menschheit tun, um die Bedingungen für ihr Fortleben zu sichern? Klimawandel, Artensterben, Rohstoffverknappung sind die Themen, die uns heute beschäftigen. Die rasant wachsende Bevölkerung des Erdballs mit der so erfolgreichen Spezies homo sapiens sapiensspitzt die Umweltprobleme stetig zu. Der Beitrag, den die Städte zu dieser Zuspitzung leisten, ist enorm. Auf der Tagesordnung jedes Politikers, Urbanisten, Architekten, Bürgers sollte also vorrangig die Frage stehen: “Was können wir in unserem jeweiligen Fachgebiet, mit unserem täglichen Handeln dazu beitragen, um die drohenden Entwicklungen zu milden und so weit wie möglich aufzufangen?” Die Forderung nach Nachhaltigkeit wird jedoch oft ganz allgemein oder dann andererseits wieder ganz detaillistisch gestellt, und die meisten Antworten  beziehen sich auf klar abgegrenzte Sachbereiche. Umfassende Perspektiven für eine andere, den neuen Bedingungen angepasste urbane Lebenswelt zeichnen sich nur selten ab.

Die Glückbauten weisen mit ihrem Grünbewuchs avant la lettre auf eine in mehrerer Hinsicht wichtige Strategie: Pflanzen bieten eine effiziente – und gleichzeitig kostengünstige – Milderung der Probleme, mit denen unsere urbanen Wüsten, die Städte, zunehemend zu kämpfen haben. Blattgrün von Bäumen, auf Dächern und an Hauswänden kann in sommerlichen Hitzeperioden die Temperaturen enorm senken, Unterschiede von 3 bis 13 Grad sind gemessen worden. Diverse Forschungseinrichtungen haben ihre Befunde dazu vorgelegt. Das Blattgrün kann aber mehr: es bindet durch das ‚Atmen‘ der Blätter Feinstoffe, die dann beim nächtsten Regen in die Kanalisation abgewachen werden, es reinigt also die Luft – und rettet damit Leben: die hohe Anzahl der Sterbeopfer durch Feinstaubverschmutzung wurde gerade erst neuerdings noch einmal nach oben korrigiert. Aber mehr noch: Die Wasserüberlast der nun so häufig auftretenden Sturzregen, die wegen der nicht darauf berechneten Kanalisationssysteme zu Überschwemmungen führt, wird durch den Pflanzenbewuchs verlangsamt und gleichzeitig reduziert. Und last not least ist die Augenweide des Grüns gut für Leib und Seele: Menschen gesunden schneller, wenn sie auf Grün blicken können, Depressionen werden gemildert, Menschen werden ruhiger und ausgeglichener. Die Natur in die Stadt zu holen, Gebäude zu begrünen ist eine einfache Massnahme – wäre eine einfache Massnahme, muss man sagen, schwebte nicht den meisten der Architekten immer noch eine Architektur der Moderne vor Augen, die eine scharfe Trennung zwischen Grün und Architektur verlangt. Der wichtige Beitrag, den das urbane Grün für unsere Zukunft spielen kann, wird  weitgehend negiert. Nach wie vor setzten Architekten kahle Gebäude in eine versteinerte Umwelt, die sich in den warmen Perioden des Jahres in ”urban heat islands” verwandelt. ”Begrünte Fassaden versperren die Sicht auf die Architektur”, lautet ein oft gehörter Einwurf von dieser Seite.

Harry Glück hat eine solche Position nie eingenommen. Seine Architektur der Integration von Grün in Gebäude stellte immer das Wohl der Bewohner voran, nicht die architektonische Form als absoluten Faktor. Sein Interesse an dem Konzept Biotope City, an der Idee der dichten Stadt als Natur, zeigt seine Wachheit und Offenheit auch für die neuen umfassenden Herausforderungen an Struktur und Gestalt, vor denen unsere Städte heute stehen. ‚Biotop City – die Stadt als Natur‘ ist so gesehen die konsequente Fortschreibung dessen, was sich wie ein roter Faden durch sein Werk der letzten vier Jahrzehnte zieht.

Grund genug also für mich, erfreut Harry Glücks Einladung anzunehmen und nach Wien zu fliegen. Es folgten inspirierte Gespräche und Projektüberlegungen – und schliesslich selbst ein halber Umzug aus Amsterdam, natürlich in eine ‚Glückwohnung‘. Dem ersten Produkt unserer gemeinsamen Überlegungen, einer von allen Seiten total begrünten Wohn-Burg am Altmannsdorfer Dreieck, wurde freilich in den strengen Wiener Genehmigungsprozeduren die Federn geruft: ihr vertikales Grün fiel den Brandschutzbestimmungen zum Opfer. Aber Harry Glück, klug und beharrlich wie schon immer, liess sich nicht entmutigen, und das zweite Projekt steht nun in den Startlöchern: ein ganzes BIOTOP CITY QUARTIER von 1.300 Wohnungen, einer Schule, Kindergärten, Nahbedarfsläden und natürlich die obligaten Schwimmbäder am Dach – am Wienerberg gelegen, Kontrastprogramm zur Wienberg City. Die Weichen sind gestellt für einen neuen Städtebau und eine neue Architektur, die die Herausforderungen der Zunkunft annehmen.

Dieser Beitrag ist erschienen in einer umfassenden Darstellung der Bauten von Harry Glück: 

Reinhard Seiss (Hg.), Harry Glück. Wohnbauten Müry Salzmann Verlag, Salzburg, 2014